Literaturkritik

   

Agnes Gossen-Giesbrecht

Interview Agnes Gossen-Giesbrecht mit Ingmar Brantsch zum 70. Geburtstag

Ingmar Brantsch wurde am 30.10.1940 in Kronstadt/Brasov, Siebenbürgen/Rumänien geboren.
1957-1962 studierte er Germanistik/Romanistik an der Universität in Bukarest. Arbeitete danach zwei Jahre als 1964 Redakteur und Bibliothekar im Haus der Presse in Bukarest. 1964 zog er nach Kronstadt um und arbeitete bis zu seiner Ausreise nach Deutschland im Jahr 1970 als Lehrer für Deutsch und Rumänisch. 1970-1976 Zweitstudium Köln-Bonn, Germanistik/Philosophie/Geschichte, Religion und Pädagogik (alles mit Abschluss), anschließend zwei Jahre Referendariat in Gummersbach. Seit 1978 ist er Lehrer in Köln, ab 1998 bis heute delegiert in die Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf in die Außenstelle des Abendgymnasiums Köln

Wichtigste Veröffentlichungen:
In der alten Heimat Rumänien: Deutung des Sommers 1967, Gedichte und 1 Essay;
Ein 20. Jahrhundert 1970 (eingestampft wegen Aussiedlung in die Bundesrepublik)
In der neuen Heimat Deutschland: Neue Heimat BRD oder Spätheimkehrer nach 1000 Jahren, Gedichte, 1983; Karnevalsdemokratie, 1985, Erzählungen; Mozart und das Maschinengewehr, 1985, Anti-Roman; Das Leben der Ungarndeutschen nach dem 2. Weltkrieg im Spiegel ihres Schrifttums, 1995; Das Leben der Russlanddeutschen nach dem 2. Weltkrieg im Spiegel ihrer Literatur, 1999; Das Weiterleben der rumäniendeutschen Literatur nach dem Umbruch, 2007; Goethe und Heine hinter Gittern, Erzählungen 2004; Pisastudie getürkt, Erzählungen, 2006; Ich war kein Dissident, Autobiographie 2009 und Inkorrektes über die Policital Correctness, 2009; Unterricht in der JVA, Jedem eine zweite Chance (Anthologie), 2010

Lieber Herr Brantsch, Ende Oktober werden Sie Ihr 70. Jubiläum feiern. In Ihrem ereignisvollen bewegten Leben gab es viel Licht und Schatten. Welche Momente zählen zu den hellsten, die Zeit Ihres Lebens Ihnen Kraft und Halt gegeben haben?

Ich habe in Kronstadt die deutsche Volksschule besucht bis zur 7. Klasse. Dann gaben mich meine Eltern – beide Deutschlehrer – in das berühmte nationalbewusste rumänische Gymnasium Nr. 1 Andrei Saguna, hauptsächlich um mir ein späteres Jurastudium zu ermöglichen, wie es meine Mutter wünschte. Für die Aufnahme in die 8. Klasse, die erste des Gymnasiums, muss in Rumänien eine Aufnahmeprüfung bestanden werden, da die Anzahl der Plätze begrenzt ist. Die ganze 7. Klasse hindurch lernte meine Mutter Tag für Tag mit mir. Rumänisch war auch ihr Fach. Auf diese Art und Weise wurde Rumänisch wortwörtlich über das Zusammenlernen mit meiner Mutter zu meiner zweiten Muttersprache und zudem wurde mir meine Mutter durch diese aufopfernde Hilfe besonders lieb.

Wer eine lange Reise macht, der hat was zu erzählen, sagt der Volksmund. Ihre 70-jährige Lebensreise, deren Stationen Sie‚ Herr Brantsch, mit feinem Sinn für Humor und Gerechtigkeit in Ihrem neuem Buch „Ich war kein Dissident“ schildern, beginnt mit dem schönsten und lyrischsten Teil „Kindheit im Karpatenbogen“. Sie haben sie zum Teil in einem typisch siebenbürgisch-sächsischen Pfarrhaus verbracht mit frommen Bewohnern, einer Kirchburg, Dorfkirche mit einer Orgel. Es war, wie Sie schreiben: „eine kleine, heile Welt voll Wärme und voll Licht. Voll Licht, das auch bunt sein kann, durch Anekdoten, die Butzenscheiben der Erinnerung. Was eine siebenbürgisch-sächsische Dorfgemeinschaft einem auf den Lebensweg mitzugeben vermochte, versteht man erst dann wirklich richtig, wenn man vom Leben gebeutelt ist...“

Mit zunehmendem Alter sieht man deutlicher die einzelnen Mosaiksteinchen, aus denen das Bild des eigenen Lebens langsam immer mehr Gestalt annimmt, aber auch viele Zusammenhänge sieht man klarer. Sie haben einmal über eine gewisse Naivität in Ihrer Jugend gesprochen. Welche negativen Momente in der alten und neuen Heimat hätten Sie sich gerne erspart? Wären Sie ohne sie nicht ärmer an Erfahrungen gewesen, einfach ein anderer?

Sie haben vollkommen recht mit Ihrer Vermutung, ohne meine Naivität, eine gewisse siebenbürgisch-sächsische Treuherzigkeit und balkanesische Leutseligkeit hätte ich sicherlich eine ganze Reihe Fehler nicht gemacht, aber auch eine Menge an Lebenserfahrung eingebüßt.

Sie sind Autor von einem Dutzend Bücher. Woran arbeiten Sie jetzt?

Zurzeit arbeite ich am 2. und 3. Band meiner Autobiographie „Ich war kein Dissident“. Der 2. Band heißt „Ich kam nicht als reuiger Sünder“ und schildert mein zweites Studium und das Referendariat in Deutschland. Der 3. Band hat den Titel „Der Rumäne schreibt Diktate“ und schildert mein „dramatisches“ Lehrerdasein in einem sozialen Brennpunkt Kölns, im Abendgymnasium und im Knast. Mein großes Vorbild ist Maxim Gorki mit seiner dreibändigen Autobiographie „Meine Kindheit“, „Meine Universitäten“ und „Unter fremden Menschen“.

Kann man über Sie sagen: Einmal Lehrer – für immer ein Lehrer? Waren Sie gerne Lehrer? Machen Sie nach der Pensionierung weiter?

Meine Familie väterlicherseits stammt ab von den vor einem Vierteljahrtausend von Maria Theresia nach Siebenbürgen – das habsburgische Sibirien – verbannten Protestanten. Seit damals sind wir väterlicherseits urkundlich belegt über die Jahrhunderte – 250 Jahre und mehr – kontinuierlich als Lehrer und Prediger. Auf Wunsch meiner Mutter sollte ich als Erster ausbrechen in das Juristische, aber das Schicksal hat mich als Lehrer zurückbeordert. Ich hadere nicht mit meinem Schicksal, im Gegenteil, ich habe es ja im Blut. Zudem bin ich glücklich, dass ich auch nach der Pensionierung noch im Knast gebraucht werde, eine Arbeitsstätte, die zu mir passt.

Sie sind ein politisch und gewerkschaftlich aktiver Mensch, haben auch einige Literaturprojekte ins Leben gerufen. Könnten Sie etwas mehr darüber erzählen?

In meiner alten Heimat in Kronstadt habe ich an der Allgemeinschule Nr. 14 in Bartholomä eine „Meistersingergruppe“, eine Poesiekreis mit begabten Schülern ins Leben gerufen. Hannelore Becker, eine Teilnehmerin darin, schreibt erfreulicherweise auch heute noch Gedichte, und ich hoffe, auch die anderen Teilnehmer haben ihre Liebe für die Poesie bewahrt. In Deutschland habe ich in dem sozialen Brennpunkt Kölns, wo ich als Lehrer Schüler aus vieler Herren Länder hatte, eine Arbeitsgruppe „Rumänische Sprache und Literatur“ geleitet und konnte damit dazu beitragen, dass einige Schüler sich für das Romanistikstudium interessierten. Mit Hilfe von Elisabeth Rieping, einer großen Freundin und Förderin der rumäniendeutschen Literatur, gelang es, viermal rumäniendeutsche und rumänische Autoren nach Deutschland zu Lesungen zu bringen. Darunter so bekannte wie Sinziana Pop, Eginald Schlattner, Joachim Witstock und Aurel Mihaiu.

Herr Brantsch, Sie sind ein exzellenter Kenner der Literatur von deutschen Minderheiten in Osteuropa, haben viel über rumäniendeutsche und ungarndeutsche Literatur geschrieben, aber besonders stark haben Sie sich für die russlanddeutsche Literatur eingesetzt und sie propagiert, viele Bücher deutscher Autoren aus Russland besprochen und auch ein Buch „Das Leben der Russlanddeutschen nach dem 2. Weltkrieg im Spiegel ihrer Literatur“ geschrieben. Warum? Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen?

Mein Vater musste in Russland als Hauptmann der Artillerie in der rumänischen Armee im 2. Weltkrieg erst gegen die „Russen“, dann – nach dem Frontwechsel Rumäniens – mit den Russen kämpfen. Er lernte sie kennen und auch schätzen, wie auch mein Onkel, der Pfarrer, bei dem sie mit ihren Pferden einquartiert waren. Auf russischen Pferden ritt ich zum ersten Mal in meinem Leben. Vier meiner Onkel mussten in Russland nach dem 2. Weltkrieg Zwangswiederaufbauarbeit als rumäniendeutsche Deportierte leisten. Einer starb bei einem Arbeitsunfall an Blutvergiftung, weil es einfach keine Medikamente gab. Meine jüngere Schwester studierte in Bukarest zunächst Russisch und dann Englisch, als Ceaucescu Russisch als erste Fremdsprache abschaffte. Ich selber habe Russisch als erste Fremdsprache lernen müssen und bin schon als Jugendlicher ein Fan gewesen von Maxim Gorki, Dostojewski, Scholochow, Bella Achmadulina und Tschingis Aitmatov. Alle sehr gut ins Deutsche übersetzt, sowohl in der DDR wie auch in der Bundesrepublik. Ich war über ein Dutzend Mal in der verblichenen Sowjetunion, vom Baltikum bis nach Sibirien, den Kaukasus und Zentralasien. Dort habe ich an Ort und Stelle Russlanddeutsche kennen und bewundert gelernt. Besonders beeindruckt hat mich, wie Bulat Atabajew, der kasachisch-russische Regisseur, der in der DDR Theater- und Filmwissenschaft studiert hatte, am Deutschen Theater in Alma Ata in Kasachstan sich für den russlanddeutschen Autor Viktor Heinz, seinen Landsmann und dessen dramatisches Standardwerk das Drama über das Schicksal der Russlanddeutschen „Auf den Wogen der Jahrhunderte“ eingesetzt hat, um es zur Aufführung zu bringen. Was ihm auch gelungen ist, so dass die Russlanddeutschen trotz der schwierigsten Bedingungen einer deutschen Minderheit in Osteuropa, gerade auf dem schwierigen Feld der Dramaturgie, eine Spitzenleistung vorzuweisen haben.

Da habe ich mir gesagt, was dieser wunderbare Kasache für die russlanddeutsche Literatur unternimmt, verpflichtet uns alle ihm nachzueifern und das Unsrige für die Russlanddeutschen und ihre Kultur zu tun, da die Russlanddeutschen die am härtesten vom Schicksal geschlagenen Deutschen im Osten Europas sind. So habe ich versucht, das Meinige beizutragen und bin reich beschert worden mit der Bekanntschaft und Freundschaft von vielen liebenswerten, herzensguten, manchmal eigenwilligen, leistungsstarken, fantasiebegabten und trotz aller Schicksalsschläge hoffnungsfrohen tollen Menschen, die mir sehr nahe stehen, die einfach alle meine Ostblocklandsleute sind.
Im Namen der deutschen Autoren aus Russland möchte ich Ihnen – einem Ehrenmitglied des Literaturkreises der Deutschen aus Russland und engagiertem Freund unserer Literatur – für Ihre tatkräftige Unterstützung danken, herzlich zu Ihrem 70. Geburtstag gratulieren und noch viele kreative Jahre, gute Gesundheit, neue Bücher und interessierte Leserschaft wünschen.

Der Dank ist auf meiner Seite Ihnen gegenüber, denn durch Sie und Ihre Kollegen ist mein Leben wesentlich bereichert worden und der Verlust der alten Heimat im Osten, der einen immer noch schmerzt, viel erträglicher geworden. Ich möchte Ihnen auch aus vollem Herzen danken für alles, was Sie mir im Laufe der „Jahrzehnte“ an Freude und Anregungen haben zukommen lassen.

Einige Gedanken zum neuen Buch von Ingmar Brantsch „Ich war kein Dissident“: Autobiographie, Ludwigsburg, POP-Verlag Fragmentarium, 1. Auflage, 2009, 254 S., ISBN 978-3-937139-68-5, Tel.: 0221-443634

Wer eine lange Reise macht, der hat was zu erzählen, sagt der Volksmund. Die fast 70-jährige Lebensreise des rumäniendeutschen Schriftstellers und Literaturkritikers Ingmar Brantsch, deren Stationen er mit feinem Sinn für Humor und Gerechtigkeit in seinem neuem Buch „Ich war kein Dissident“ schildert, beginnt mit dem schönsten und lyrischsten Teil „Kindheit im Karpatenbogen“. Sie hat er zum Teil in einem typisch siebenbürgisch-sächsischen Pfarrhaus verbracht mit frommen Bewohnern, einer Kirchburg, Dorfkirche mit einer Orgel: Es war, wie er schreibt: „eine kleine, heile Welt voll Wärme und voll Licht. Voll Licht, das auch bunt sein kann, durch Anekdoten, die Butzenscheiben der Erinnerung. Was eine siebenbürgisch-sächsische Dorfgemeinschaft einem auf den Lebensweg mitzugeben vermochte, versteht man erst dann wirklich richtig, wenn man vom Leben gebeutelt ist...“
Ein Jahr vor dem Krieg geboren, wurde er als 3-jähriger Junge mit seiner Schwester von seiner schwangeren Mutter zu seinem Onkel Karl (Karlonkel, Dorfpfarrer) und die Ingetante für eine Weile geschickt. Sein Vater war an der Front, erst auf deutscher Seite und später, als Rumänien die Seiten im Krieg wechselte, an der russischen Seite als Hauptmann der Artillerie. Da es nach der Niederlage bei Stalingrad kaum Pferde gab und er kurzerhand Kamele eines Wanderzirkusses requirierte, um die Lafetten der Geschütze weiter zu ziehen, und auf dem Rückzug vom „bolschewistischen Erzfeind“ gegen den faschistischen Erzfeind kämpfen musste, nennt der Autor ihn augenzwinkernd: „O, mein Papa, der antifaschistische Kameltreiber“.
Erstaunlich, dass er seine Kindheit während des Krieges fast wie ein Idyll empfunden hat („Die Russen tun ja nichts“... sagt er als 5jähriger, als er mit ihnen bis zum Ende des Dorfes mitfährt und das ganze Dorf glaubt, dass er entführt wurde. „Und ob sie was machen“, brummt der Onkel. „Revolution haben sie gemacht, Bürgerkrieg haben sie gemacht...“)
Es passieren auch bedrohlichere Sachen, bei denen sein Onkel nur glimpflich davon kommt: als jemand ihn verraten hatte und die rumänische Polizei daraufhin bei ihm seine vergrabene Pistole fand. Als nach dem Krieg die rumäniendeutschen Männer zwischen 17 und 45 zur Zwangsarbeit nach Russland geschickt wurden, rettete den Dorfpfarrer ein befreundeter rumänischer Polizist, der den russischen Offizier begleitet und den Onkel auf Rumänisch warnt und, sich krank zu stellen und im Bett liegen zu bleiben.
Seine Tante war eine begnadete Organistin und Pianistin, es gab viele Bücher. Einige siebenbürgische Autoren gehörten zum Freundeskreis der Familie. Der zukünftige Lyriker Ingmar genoss das Leben in und mit der Natur, Musik und Literatur. Als Schulkind verbrachte er alljährlich viele Wochen in den Ferien bei seinem Onkel in Kelling und erlebte dort seinen ersten Erfolg mit einem Zwiebelgedicht in der vollbesetzten Kirche. In der dritten Klasse zeigt er seine ersten Naturgedichte seiner Lehrerin, die er sehr mochte und deshalb ein Gedicht widmete.
Seine ehrgeizige Mutter nahm ihn aus der deutschen Schule und schickte aufs rumänische Gymnasium, wo er sich nicht besonders glücklich fühlte, aber so besser die rumänische klassische Literatur kennenlernte und sie später auch neben Germanistik studierte, obwohl er für sich sehr früh beschlossen hatte, ein deutschsprachiger Dichter zu werden, und auch als sehr begabt galt.

Interessant war für mich auch der zweite Teil des Buches „Meine Universitäten Ost“ (das Zweitstudium im Westen in Köln und Bonn wird wahrscheinlich in der Fortsetzung des Buches kommen). Obwohl das von Brantsch beschriebene Studentenleben, Unterbringung in überfüllten Zimmern in Studentenheimen, die ich in Russland rund 15 Jahre später etwas anders erlebt habe, kam mir sehr bekannt vor aus den Erzählungen meiner älteren russlanddeutschen Schriftstellerkollegen, die auch über die Atmosphäre der Angst und Denunziationen während ihres Studiums berichteten. Während meines Studiums in den 70. Jahren verschwand plötzlich unser Philosophiedozent, der sich erlaubt hatte zu sagen, dass Lenin nichts Bannbrechendes erfunden hatte, sondern selbst auf die drei Quellen der marxistischen Philosophie hingewiesen hatte und Karl Marx auch die Gedanken seiner freigeistigen Vorgänger in seinen Arbeiten benutzt hatte.
Ingmar Brantsch berichtet über die Verhaftung eines seiner Kommilitonen durch die Securitate im Zusammenhang mit der Niederschlagung des Ungarnaufstandes im Jahr 1956. Auch die Gruppensprecherin, die nicht den Mut hatte, über diese Festnahme der Dozentin – der Gruppenleiterin zu berichten, hatte deswegen große Probleme. Der Autor schreibt: „Wie eine existenzialistische Gewitterwolke schwebte im langsam abklingenden Stalinismus eine undefinierbare Angst, eine sorgenvolle Ungewissheit, ob man nicht eine verhängnisvolle Unvorsichtigkeit begangen habe über allen Studierenden, wie zum Beispiel das verbotene Hören der Jazzmusik im Zimmer, das später sehr tragische Folgen hatte. Das Radio wird vom Autor aus der jetzigen Sicht ironisch als „Instrument zur Verbreitung der rhythmisch tönenden Ideologie des Klassenfeindes“ bezeichnet.
Aber es waren auch Jahre, in denen sein lyrisches Talent aufblühte und er mit ein paar dichtenden Kommilitonen oft über Gedichte diskutierte. So schrieben sie Gedichte, die in der Uni-Wandzeitung veröffentlicht und in Literaturzirkeln der Fakultäten vorgetragen wurden und füllten sich als kulturelle Bereicherer der schwierigen Übergangsperiode. Diese Spannung zwischen hehrsten Menschenidealen der Zukunft und mitunter miesesten Situationseinschränkungen der Gegenwart schuf ein für die Lyrik günstiges Klima.
Der Autor des Buches „Ich war kein Dissident“ ist schonungslos ehrlich, was eigene Jugendgedichte betrifft: „Die Menschheit und die Natur vereinst du/ Fahne der Arbeiterklasse, Fahne der Partei.“ Ist es nicht ein etwas naiver patriotischer Gedanke eines immerhin global philosophisch denkenden jungen Menschen?
1967 erschien in Rumänien Brantsch erster Lyrikband „Deutung des Sommers“, der 1968 mit dem Lyrikpreis der Jungen Akademie Stuttgart und dem Anerkennungsdiplom der Jungen Akademie München. Er und einige gleichgesinnte jungen Autoren versuchen, neue Wege zu gehen und beginnen moderne Alltagslyrik zu schreiben, die bei den älteren konservativ gesonnenen rumäniendeutschen Autoren und ideologisch wachsamen, aber schlecht gebildeten Funktionären schlecht ankamen. Darüber berichtet er im Kapitel „Schiffbruch in Bukarest“ und „Zurück zu den Wurzeln“, in denen er parallel über seine zweijährige Arbeit als Redakteur und Bibliothekar in Bukarest und danach sieben Jahre als Gymnasiallehrer in Kronstadt und seine Mitarbeit an verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften schreibt.
Es waren nicht rumänische, sondern eigene rumäniendeutsche Funktionäre, die dazu beigetragen haben, dass er sich immer verbitterter fühlte und ungemütlicher ihnen gegenüber wurde. Dabei versuchte er nur gegen falsche Behauptungen anzukämpfen, aber es war aussichtlos. Sehr ausführlich berichtet Ingmar Brantsch über die deutsche Presselanschaft und die Literaturszene in Rumänien und den unterschwelligen und offenen Auseinandersetzungen. Manchmal staunt man nur, wie viel Pech man haben kann, wenn man nicht so anpassungsfähig ist, wie die später im Westen als Dissidenten gefeierten Autoren der Aktionsgruppe Banat die, wie der Ingmar Brantsch schreibt, „nach der Beendigung ihrer „revolutionären“, auf nationalen Minderheit der Banaterschwaben herumhackenden Kampfzeit der Bewegung kamen die ideologisch ehrlichen marxistischen Aktionsgrüppler in die Jahre, in die Karriere, zu Preisen des Kommunistischen Jugendverbandes für Literatur und sozialistische Ethik (Rolf Bossert, Richard Wagner, Herta Müller u.a.), und sie kamen zu Wohnungen, was auch ein großes Privileg in der damaligen Zeit war.
Ingmar Brantsch war auch Mitglied des Jugendverbandes, er steht im Buch zu seinen Fehlern in der Vergangenheit, aber versucht auch viele Behauptungen und Verleumdungen dieser Zeit wieder ins richtige Licht zu rücken und gegen die im Westen entstandenen Unwahrheiten in der Gegenwart zu kämpfen.
1987 wurde Ingmar Brantsch mit dem Siebenbürger Literaturpreis ausgezeichnet. Es war eine Anerkennung seines Lebenswerkes, aber 1970 vor seiner Übersiedlung nach Deutschland fühlte er sich ziemlich einsam und verlassen, weil viele seine literarischen Freunde schon im Westen lebten. Sein zweiter Gedichtband „Ein 20. Jahrhundert“, das er dem Jugendverlag Bukarest überlassen hatte, wurde auf Eis gelegt, obwohl mit ihm ein Vertrag geschlossen und ein halbes Honorar ausgezahlt wurde. Als er anlässlich Regensburger rumänischen Kulturtage 1970 im Westen blieb, wurde das Buch von Brantsch - eines rechtlosen Republikflüchtlings eingestampft. Dasselbe Schicksal erwartete auch seinem Prosaband „Der abwesende Anwesende“ mit modernen teilweise surrealistischen Texten, das auch zur Veröffentlichung vorbereitet war, aber nicht mehr erschien, gut, dass wenigstens das Manuskript nicht verloren gegangen war. In Kronstadt sah er für sich keine Perspektiven weder als Deutschlehrer noch als rumäniendeutscher Autor, da blühte ihm, wie er schreibt „eine Zukunft ewiger Idiotenintrigen“ und sein Fazit - das Ende dieses Buches und auch dieses seines Lebensabschnittes ist:
„Das Schicksal war also für meine zweite Lebenshälfte nicht mehr die alte Heimat Siebenbürgen, Transsilvanien, Rumänien, sondern die neue (dabei uralthistorische) Heimat Deutschland und dort das Rheinland, den aus der Gegend Rhein-Mosel-Maas-Mosel waren fast tausend Jahre zuvor die Siebenbürger Sachsen als Mosel- und Rheinfranken gekommen. Dahin musste ich wieder und blieb doch ein k.u.k. Mann. Aus Kronstadt nach Köln. K.u.k auf ein Neues!“

Der Titel seines Buches „Ich war kein Dissident“, der auf jeder zweiten Seite des Buches in der Kopfzeile erscheint, ist für mich ein trotziger Wiederstand gegen die so genannten Dissidenten, die sich gleich gut in Rumänien und im Westen verkauft haben, und ein Aufruf seiner verletzten, nach Gerechtigkeit trachtenden Seele, die es nicht annehmen kann, dass die frühere Lieblinge des Ceausescu als Dissidenten im Westen gefeiert werden, obwohl sie „Dichter ihrer eigenen Legenden“ sind, so Brantsch. Da es um tatsächlich sehr talentierte Autoren geht, die ich früher gerne gelesen habe, und auch Ingmar Brantsch lange als einen sehr ehrlichen, belesenen Mensch kenne, der sich immer wieder für die Belange der deutschen Minderheiten in Ungarn und der ehemaligen Sowjetunion einsetzte, ihre Literatur besser als mehrere Russlanddeutsche selbst kennt, hinterlässt dieses Buch bei mir einen etwas bitteren Beigeschmack. Ist es nicht typisch Deutsch – sich selbst ewig zu bekämpfen, oder Halbwahrheiten für die Wahrheit in letzter Instanz halten, ohne sich wie Ingmar Brantsch des eigenen Verstandes zu bedienen und nachzudenken. Als Außenseiter fühlt man sich aber bei dieser Wahrheitssuche etwas verloren, weil die Unmenge von Details, die der Autor dieses Buches schildert, auch manchmal droht, zu einer Lawine zu werden. Ingmar Brantschs Stil ist manchmal zu umständlich, aber der für ihn so eigener ironischer Unterton, seine Gabe auch über sich selbst zu erheben, machen sein neues Buch lesenswert und interessant.

Agnes Gossen-Gisebrecht